Letztes Jahr konnte man das ja noch irgendwie verstehen als Nichtphysiker: Blaue LEDs haben sicher irgendwo in der Industrie eine Anwendung (weiße LEDs ahoi) und Biologen und Chemiker können das Anwendungsfeld der STED-Mikroskopie im Zusammenhang mit dem Chemie-Nobelpreis (Stefan Hell, schon wieder so ein Physiker) ebenso nachvollziehen. Jetzt aber landet der Physik-Nobelpreis wieder in der Grundlagenforschung, die häufig schnell sehr weltentrückt klingt.
Worum geht’s? Kurz und knapp: Es geht darum, dass Neutrinos, die zu den Elementarteilchen gehören und ganz schön wichtig für sehr viele Prozesse im Universum und auf der Erde sind, entgegen der etablierten Lehrmeinung doch eine Masse haben. Wenn man zwei Jahre zurückdenkt und sich noch an das Higgs-Teilchen erinnert, kann man schon vermuten, dass unter Physikern ein nicht zu vernachlässigender Teilchenphysikfetisch herrscht. CERN und so. Woran das liegt? Die Teilchenphysik schafft es auf Basis der Quantenmechanik, genau genommen der Quantenfeldtheorie, eine Beschreibung für sämtliche fundamentale Wechselwirkungen in der Natur zu finden, denen Elementarteilchen zugrunde liegen (das mit der Gravitation klappt bisher nicht so ganz…). Das sind nicht nur die starke und die schwache Wechselwirkung, die für die Kernkräfte und Zerfälle zuständig sind, sondern auch die elektromagnetische.
Ausgangspunkt der Teilchenphysik ist ein enormes Theoriekonstrukt, das experimentell extrem genau nachgewiesen ist: das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik. Dort wird alles erklärt: von den Elektronen, die zu den sogenannten Leptonen gehören, über die Quarks und Gluonen, die die Atomkerne aufbauen, bis hin zu den Neutrinos. Neutrinos sind dabei masselose Teilchen, die erstmals 1930 von Wolfgang Pauli postuliert wurden und seitdem viele Teilchenumwandlungsprozesse korrekt erklären konnten. Diese Prozesse unterliegen der sogenannten schwachen Wechselwirkung und finden sich zum Beispiel beim Beta-Zerfall wieder (siehe unser Kapitel zur Radioaktivität). Aber Moment…haben sie nun Masse oder nicht? Das Standardmodell behauptet Nein, und ist ansonsten ganz schön konsistent. Woher glaubt man nun also, dass das nicht stimmen könnte?
Neutrinos werden unter anderem bei Kernfusionsprozessen erzeugt, so auch in unserer Sonne. Dieser Prozess nennt sich pp-Zyklus, wobei schließlich zwei Wasserstoffatome zu einem Heliumatom fusionieren und über (sehr viel) längere Zeiträume auch schwerere Elemente entstehen. Dabei werden Elektron-Neutrinos frei. Mit dem sogenannten Homestake-Experiment zur Untersuchung solarer Neutrinos wurden aber viel weniger Elektron-Neutrinos beobachtet als vermutet. Das liegt nun daran, dass sich Elektron-Neutrinos auch in die beiden anderen Neutrinoarten (Tau- und Myon-Neutrinos) umwandeln können und zwischen diesen quantenmechanischen Eigenzuständen (siehe Kapitel Quantenmechanik im Buch) mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit hin- und her-oszillieren können. Diese Wahrscheinlichkeit legt schließlich auch eine Masse für die Neutrinos fest. Das bedeutet also, wenn etwas oszilliert, dann haben Neutrinos auch eine Masse. Das ist aus Sicht des Standardmodells natürlich höchst skandalös. Für den astrophysikalischen Neutrinonachweis gab’s schon mal (2002) einen Nobelpreis. Allerdings stand der genauere experimentelle Nachweis der tatsächlichen Oszillationen weiter aus. Das lieferten erst die beiden gestrigen Nobelpreisträger Arthur McDonald vom Sudbury Neutrino Observatory (Nachweis solarer Neutrinos) und Takaaki Kajita vom Super-Kamiokande Detektor in Japan (Nachweis atmosphärischer Neutrinos). Diese beiden Neutrinodetektoren befinden sich unter der Erde, um zunächst weitere Teilchenarten abzuschirmen. Der eigentliche Neutrinonachweis geschieht in diesen mit Wasser gefüllten Tanks über sogenannte Cherenkov-Strahlung. Neutrinos werden bei Wechselwirkung mit den Wassermolekülen zu einem Elektron und einem Proton, wobei das Elektron sich mit einer höheren Geschwindigkeit im Wasser bewegen kann als das für elektromagnetische Strahlung möglich ist. Das bedeutet, dass sich in diesem Medium die erzeugten Elektronen tatsächlich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen (was nicht verboten ist, solange sie sich langsamer bewegen als die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum). Dabei wird kegelförmig (ähnlich zum Machkegel bei der Schallgeschwindigkeit) Strahlung im blauen Bereich des sichtbaren Lichts frei. Diese Cherenkov-Strahlung wird schließlich von Photodetektoren registriert und es lassen sich die ursprünglichen Neutrinos rekonstruieren.
All diese mittlerweile außerordentlich gut gesicherten Erkenntnisse sind viel mehr als nur simple Beobachtungen. Sie stellen eines der wichtigsten Theoriekonstrukte der Physik in Frage und öffnen die Tür zu einem Bereich, den man kunstvoll noch „Neue Physik“ nennt. Also auf gut Deutsch das, wovon niemand eine Ahnung hat und womit sich auch der LHC am CERN beschäftigt. Vielleicht können die Eigenschaften massebehafteter Neutrinos sogar erklären, warum wir alle aus Materie und nicht aus Antimaterie bestehen.
Bis dahin an die beiden Laureaten: Gebt nicht alles auf einmal aus!